Bildungsarbeit an Hochschulen

Bildungsarbeit an Hochschulen

Aktuelles

Bildungsmodule für eine sozial-gerechte Modeindustrie

Cover Bildungsmodule 2019

Blog: Modefairarbeiten.de

Blog Mode fair arbeiten

Fact-Sheets

Factsheets

 

 

Tamara HarmsenTamara HarmsenTamara Harmsen hat von September bis Dezember 2015 ihr Praktikum bei unserer Partnerorganisation CIVIDEP in Bangalore absolviert. Sie berichtet hier über ihre persönlichen Erfahrungen und thematische Arbeit.

13.10.2015: 1. Teil des Praktikums

Praktikum bei Cividep

Wie auch bei früheren Praktika, dienten mir meine ersten drei Wochen bei Cividep der langsamen Eingewöhnung und Akklimatisierung. Dadurch dass gleich zu Beginn meines Praktikums eine Dengue-Welle um sich geschlagen hat, war das Büro zeitweise nur spärlich besetzt. Seit vorletzter Woche ist Normalität eingekehrt, aber die Angst vor der fiesen Tiger-Mücke ist geblieben. Dengue ist eine ziemlich unangenehme Fieberkrankheit, die nicht zu unterschätzen ist und gegen die es sich mit Mückenspray zu schützen gilt. Momentan haben die großen Mega-Cities Indiens epidemieartige Zustände erreicht. Eine Impfung existiert noch nicht aber der französische Pharmakonzern Sanofi will schon nächstes Jahr einen Impfstoff auf den Markt bringen.

Momentan unterstütze ich das Cividep-Team hauptsächlich bei einem Projekt, das in Zusammenarbeit mit dem norwegischen NGO-Netzwerk ForUM (The Norwegian Forum for Environment and Development) durchgeführt wird. Es beinhaltet zum einen eine Studie zur Wertschöpfungskette in der Teeindustrie im Nordostindischen Bundesstaat Assam, welche dazu dienen soll, die einflussreichsten Stakeholder zu identifizieren. Eine Transparenzschaffung der Wertschöpfungskette sowie Identifizierung der Stakeholder ist insbesondere wichtig, um diese, mit dem Ziel die menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Plantagen langfristig zu verbessern, adressieren zu können.

Zum anderen soll im Dezember ein Follow-up Workshop (der erste Workshop wurde letztes Jahr durchgeführt) zum Thema „Business & Human Rights Grievance Mechanisms: Capacity Building & Legal Support for NGOs & Trade Unions“ in Ostindien stattfinden, zu dem vor allem Aktivistengruppen geladen sind, die sich für die Teeplantagenarbeiter in Assam sowie die von Bauxitabbau in Orissa und Uranabbau in Jharkhand betroffenen Gemeinden, einsetzten. Ziel des Workshops soll es sein, das Bewusstsein für die Auswirkungen von Unternehmensführung auf ihre Gemeinden unter den Teilnehmern zu schärfen, sowie diese über die verfügbaren lokalen, nationalen und globalen Beschwerdemechanismen zu informieren.

Äußerst sehenswert zum Thema Arbeitsbedingungen auf den Teeplantagen Assams ist ein kürzlich erschienener Beitrag der BBC.

Ankunft und erste Eindrücke in Indien

Über einen Monat ist es nun her, dass ich in Indien angekommen bin. Die Zeit ist einerseits verflogen, andererseits habe ich aber auch das Gefühl, schon viel länger hier zu sein. „How do you like India so far?“ ist wohl eine der häufigsten Fragen, die mir in den letzten Wochen gestellt wurde. Meistens antworte ich dann „Oh, I love it but it can be exhausting in the beginning“. Das trifft es ganz gut. Indien ist bunt, voller wunderschöner Muster und Farben, lebendig, warmherzlich, hilfsbereit aber auch dreckig, sehr dreckig, chaotisch, laut, verpestet, elend, überfüllt.

Bevor ich nach Bangalore kam, glaubte ich, mit meiner Lebenserfahrung in den „Schwellenländern“ (ich mag diese Begrifflichkeit nicht) Brasilien und Mexiko einigermaßen gut für das Chaos Indiens gewappnet zu sein. Ein Trugschluss. Der alltägliche Wahnsinn des Verkehrs und vor allem die Müllberge und ihr Gestank, die sich selbst in Wohnvierteln des oberen Mittelstandes an den Straßenrändern finden, übersteigen alles, was ich bisher erlebt habe. Immer wieder erlebe ich Momente, in denen ich mit dem Kopf schütteln, die Nase rümpfen oder einfach nur ein wenig belustigt schmunzeln muss, besonders wenn mal wieder eine Kuh den Verkehr lahmlegt oder ihre Schnauze tief in einen bestialisch stinkenden Müllberg versenkt, um nach etwas Fressbaren zu suchen.

Den alltäglichen Adrenalin-Kick liefert mir mein Auto-Rikscha-Fahrer, wenn er einfach auf eine Straße abbiegt, obwohl gerade 3 Mopeds und 2 Auto-Rikschas heranpreschen und bremsen müssen, damit das Ganze nicht böse ausgeht. Die goldene Regel lautet: einfach fahren und hupen. Zu Rushhour-Zeiten gibt es kaum Zeitpunkte, zu denen eine Straße vollkommen frei ist und kein Fahrzeug für das eigene bremsen müsste. Gehupt wird, um auf sich und seine Existenz und Berechtigung im Straßenverkehr aufmerksam zu machen. Viele Verkehrsteilnehmer nehmen dies allerdings ein wenig zu ernst und hupen jedes Mal, wenn sie an einem anderen Fahrzeug vorbei fahren. Sprich: die ganze Zeit. Obgleich ich mich natürlich noch nicht vollkommen an all dies gewöhnt habe und wahrscheinlich auch nie zu 100% werde, habe ich mich doch ziemlich schnell damit arrangieren können. So gut, dass ich seit zwei Wochen sogar stolze Besitzerin eines pinken Ladybird Fahrrads bin und bisher unter Verinnerlichung der goldenen Regel im Linksverkehr ganz gut zurechtkomme. Fingers crossed.

Vor zwei Wochen hätte ich mir das sicher nicht zugetraut. Die Fortbewegung in der Stadt, die für mich in den ersten Tagen definitiv die größte Hürde dargestellt hat, klappt schon wesentlich sicherer, natürlicher und intuitiver. Mittlerweile habe ich das Gefühl, mich eigenständig und unabhängig in der Stadt bewegen zu können. Das war nicht immer so. Die prägnantesten Stressmomente habe ich während der ersten Tage erlebt, als ich mich nicht mit dem Auto-Rikscha- oder Taxi-Fahrer aufgrund dessen fehlender Englischkenntnisse verständigen konnte und während einer Heimfahrt mehrmals meine Gastmutter anrufen musste, damit diese dem Fahrer den Weg erklärte. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich mich nicht mehr unabhängig und selbstbestimmt gefühlt, was mir sehr zuwider war. Zur Erklärung: Es reicht nicht, dem Auto-Rikscha-Fahrer eine Adresse zu geben und sich dann gemütlich dorthin fahren zu lassen, sondern es bedarf „landmarks“ (etwa „Anhaltpunkte“) in der Nähe deines Zieles, die der Fahrer dann entweder kennt oder auch nicht. In der Regel haben nur die großen Hauptverkehrsstraßen Namen. Die restlichen Straßen werden dann schlicht nach dem Schema „ x Cross“ oder „x Main Road“ durchnummeriert, was mich anfangs verdammt verwirrt hat. Falls ein Auto-Rikscha-Fahrer die von dir angegebene Landmarke nicht kennt oder schlicht keine Muße hat, kann es durchaus vorkommen, dass er dir eine Mitnahme mit einem grimmigen Kopfschütteln verwehrt und einfach weiterfährt. Rikscha-Fahrer sind als Halunken und Schlitzohre verschrien. Bisher habe ich zwar noch nicht oft diskutieren müssen aber es ist sehr wohl schon vorgekommen, dass ich 3 Auto-Rikschas hintereinander anhalten musste, um einen Fahrer zu erwischen, der mir keinen viel zu überteuerten Festpreis anbieten wollte, sondern bereit war, das Taxameter anzumachen.

Am sichersten und unabhängigsten fühle ich mich mittlerweile in öffentlichen Bussen oder in Uber-Taxen. Erstere verkehren unregelmäßig, nehmen meistens längere Routen und Fahrpläne sind inexistent, sind allerdings super günstig und der vordere Bereich ist für Frauen reserviert, was sehr angenehm ist. Uber-Taxen werden über die entsprechende App bestellt, der Zielort (oder die Ziel-Landmarke) kann einfach eingegeben werden, jeder Fahrer muss über ein Internetfähiges Handy verfügen und bei Bedarf die Navigation verwenden, am Ende kann per Kreditkarte, welche in der App hinterlegt ist, bezahlt werden, weshalb es nie zu Preis- oder, auch sehr beliebt, Wechselgelddiskussionen kommt. Ich bin ein Fan! Eine kleine Anekdote zum Thema Wechselgeld: Die Frage „No change, mam?“ ist wohl die häufigste Frage, die mir bisher gestellt wurde. Wechselgeld ist heiß umkämpft in Indien und ich habe mir schon einen prüfenden Blick in mein Portemonnaie und ein bedauerndes „No, sir“ oder „mam“ angewöhnt.

Indien ist ein unglaublich facettenreiches und vielseitiges Land. Es wahrhaftig zu verstehen ist wahrscheinlich eine Lebensaufgabe. Allein die über hundert regionalen Sprachen, die religiöse Vielfalt und die Anzahl an spirituellen Strömungen sind faszinierend. Die hinduistischen Bräuche, Zeremonien, bunten, lauten und fröhlichen Feste zu Ehren einer der zahlreichen Gottheiten und die mit Jasmin- und Rosenketten geschmückten Tempel begeistern mich sehr und ich hoffe, noch mehr darüber zu erfahren, solange ich hier bin. Das heilige Wort „Om“ verinnerliche ich jedenfalls schon einmal jeden Morgen um 07:30 Uhr am Ende meiner Yoga-Stunde. Ja genau, um 07:30 Uhr am ENDE der Stunde. Obwohl ich absolut keine Frühaufsteherin bin, tue ich es doch gern für meinen lieben Yogalehrer, der mir Muskelgruppen in meinem Körper zeigt, von deren Existenz ich bisher noch nicht wusste und mich liebevoll eindringlich darauf hinweist, dass ich gut daran tue, auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland weiterhin Yoga zu praktizieren.

Außerdem sind Bangalores Morgende angenehm frisch und leise, fast schon friedlich - eine Erlösung von der sonst so versmogten, stickigen Luft und dem Überlebenskampf im Straßenverkehr. Indisches Essen, vor allem südindisches Essen ist wie erwartet wahnsinnig lecker und vielfältig. Lediglich der deutsche Magen- und Darmtrakt muss sich erst daran gewöhnen, was einige Wochen dauern kann (keine Sorge – ich habe alles unter Kontrolle). Nur das indische Frühstück gleicht für eine deutsche Müsli-Liebhaberin eher einem Mittagessen, was es jedoch nicht minder lecker macht.

Meine kosmopolitische Gastfamilie bestehend aus einem liebenswerten, etwas schrägen und permanent überarbeiteten amerikanischen Gastpapa, einer herzensguten und überaus hilfsbereiten indischen Gastmama und einer zuckersüßen, etwas schrulligen indischen Gastoma, war ein Glücksgriff. Dadurch, dass die drei bereits einige Jahre zusammen in den Staaten gelebt haben, ist der Umgang locker und ich bin bisher von unangenehmen kulturellen Fettnäpfchen oder gar Spannungen verschont geblieben. Nach einem Monat in Indien möchte ich es mir noch nicht erlauben, verallgemeinernde, stereotypisierende Aussagen über „die Inder“, wenn man das überhaupt so sagen kann, zu treffen. Eine Eigenschaft ist allerdings, ob reich oder arm, Stadt- oder Landkind universell, sehr sympathisch und zugleich extrem verwirrend: das Kopfwackeln. Es ist so omnipräsent, dass ich es mir selbst sogar schon angewöhnt habe. Zustimmung, Verneinung, Gleichgültigkeit, Aufmerksamkeit – das alles und noch viel mehr kann durch mehrmaliges Kopfwackeln ausgedrückt werden und kann besonders, wenn die dazugehörige Mimik nicht eindeutig ist, zu lustigen Missverständnissen führen. Ich habe mich beispielsweise am Wochenende nacheinander auf drei Bussitzplätze gesetzt, die freigehalten werden sollten, weil ich das Kopfwackeln der Frauen als gleichgültiges „Ja, setz dich doch“ gedeutet habe. Vielleicht komme ich noch hinter das Geheimnis des Kopfwackelns. Es gibt noch viel zu entdecken und zu verstehen.

04.12.2015: 2. Bericht

Ich kann kaum fassen, dass seit meinem ersten Bericht nun tatsächlich zwei Monate vergangen sind, mein Praktikum bei Cividep nun abgeschlossen ist und ich in weniger als einem Monat schon wieder im kalten Deutschland sein werde. Die Zeit verfliegt.

Praktikum bei Cividep

Tamara Harmsen Seit meinem letzten Bericht bis zum Ende meines Praktikums habe ich weiter an der Studie zur Wertschöpfungskette im Teesektor in Assam gearbeitet. Um den Tee von den UK Supermärkten auf die Teeplantagen in Assam zurückzuverfolgen, ist es nötig, die extrem intransparente und komplexe Wertschöpfungskette im Teesektor nachvollziehen zu können. Und hier beginnt das Problem. Tee wird auf Teeplantagen produziert, dann größtenteils von den einflussreichen Auktionshäusern an die sogenannten Pack- und Mischunternehmen in den importierenden Ländern gehandelt und geht erst danach an den Einzelhandel. In einem Teebeutel können im Mischprozess zahlreiche verschiedene Teesorten von unterschiedlichen Teeplantagen gelangen, was es umso schwieriger macht, den Ursprung des Tees zurückverfolgen zu können. Um nicht weiterhin um Dunklen zu tappen, bestand ein Großteil meiner Arbeit darin, meiner Projektleitenden Kollegin Experteninterviews zu organisieren, die nun in den nächsten Wochen stattfinden werden. Leider werde ich nicht mehr bei Cividep sein, wenn die Studie fertiggestellt wird. Auch findet nun Ende Dezember der Workshop mit Aktivistengruppen zum Thema „Business & Human Rights Grievance Mechanisms: Capacity Building & Legal Support for NGOs & Trade Unions“ in Orissa in Ostindien statt. Ich bin sehr gespannt, wie beides ausgeht.

Das Praktikum bei Cividep war eine sehr interessante Erfahrung und ich habe erfahren können, wie eine Nichtregierungsorganisation funktioniert und arbeitet. Besonders wertvoll erscheint mir, dass ich gelernt habe, mich von meiner in der Universität verinnerlichten, starren wissenschaftlichen Arbeitsweise zu entfernen und flexibel zu sein.

Eine erste Bilanz nach drei Monaten Indien

Es ist viel geschehen, ich bin viel gereist, habe viele Ort gesehen und Menschen kennengelernt, viel über Indien gelesen und persönlich erfahren können und habe mein Indienbild, wenn auch immer noch sehr vage und vor allem unbeständig, differenzieren können. Auf die Frage „How do you like India so far?“ würde ich nun am liebsten mit „It is a love-hate relationship that changes pretty much every day“ antworten. Das wäre jedoch viel zu direkt und würde zu viel Erklärungszeit und Fingerspitzengefühl beanspruchen, um nicht harsch und unhöflich zu wirken. Also belasse ich es bei den meisten Menschen bei „I love the food!“, was dann meistens die freudige Reaktion „You like spicy, ha?“ hervorruft. Oh ja, ich mag spicy. Indien ist ein kulinarisches Paradies für mich und ich werde das Essen wirklich sehr vermissen. Nach drei Monaten kann ich immer noch jeden Tag fröhlich mein Curry essen und habe mich bisher nur selten nach Abwechslung gesehnt. Nur guter Kaffee, ausgiebiger Sonntagsbrunch und frischer Salat fehlen mir.

Mein Indienbild

Zurück zum Thema: Mein Indienbild ist subjektiv, von Gefühlen und einzelnen Erlebnissen geleitet, daher sehr unbeständig und nach drei Monaten noch sehr vage. Manche Eindrücke sind noch unscharfe innere Konstrukte, welche ich zwar spüre und wahrnehme, mit denen ich mich jedoch noch nie aktiv auseinander gesetzt habe und welche ich somit auch nicht verbalisieren kann. Die Aussage „Entweder die liebst oder hasst Indien“ kann ich für mich nicht unterschreiben. Mein Verhältnis zu Indien lässt sich am ehesten mit einer sich ständig wandelnden Hass-Liebe umschreiben. Nachdem die anfängliche Euphorie über das so Andere, Neue, Exotische verflogen war, hatte ich gewiss ein paar ernüchternde, erschöpfte Momente – Momente, in denen ich mich nicht mehr über die Müllberge überall und das Verkehrschaos gewundert habe, sondern angewidert, genervt und müde war. Neben vielen kuriosen indischen Eigenarten und Traditionen, wie beispielsweise die arrangierte Heirat, welche ich zwar klar ablehne und/oder schlichtweg nicht begreifen kann, die mich in meinem Sein aber nicht weiter eingeschränkt haben, gibt es drei Aspekte der indischen Kultur, an die ich mich weniger gut gewöhnen konnte.

Das Frauenbild

Obwohl ich als weiße westliche junge Frau in Indien von indischen Männern sicherlich privilegiert/anders behandelt werde, habe ich doch auch Situationen erlebt, in denen Männer sich mir gegenüber in einer vollkommen natürlichen Weise überlegen verhalten haben. Weiße Frauen in Indien sind zudem unablässig meistens einfach nur neugierig-interessierten, manchmal aber auch aufdringlichen bis hin zu lüsternen Blicken ausgesetzt. Für dieses ständige Gestarre habe ich zwar vollstes Verständnis, denn ich sehe schließlich sehr anders aus, aber es fällt mir dennoch schwer, mich daran zu gewöhnen. Oft fühle ich mich unwohl und versuche, nicht auf die Blicke zu achten und ihnen nicht so viel Wichtigkeit beizumessen. Manchmal gelingt es mir, manchmal nicht. Es muss dazu gesagt werden, dass es in Indien immer noch viel mehr Männer als Frauen gibt. Auf 1000 männliche Geburten kamen bei der Volkszählung 2011 gerade einmal 940 Mädchen (im Vergleich 2009 kamen in Deutschland 1040 Mädchen auf 1000 Jungen). In ländlicheren Regionen klafft das Geschlechterverhältnis noch weiter auseinander. In dem stark von Landwirtschaft geprägten Bundesstaat Haryana beispielsweise lag das Verhältnis bei 879 zu 1000. Das Alter von fünf Jahren erreichten nur 834 Mädchen gegenüber 1000 Jungen. Grund für dieses Ungleichgewicht ist die zwar verbotene aber immer noch reale Praxis der Abtreibung weiblicher Föten sowie die Unterversorgung weiblicher Kleinkinder. So ist es also schon vorgekommen, dass ich in Übernachtbussen gereist bin, die mit Ausnahme von einer weiteren Frau ausschließlich mit Männern besetzt waren. Pudelwohl habe ich mich dabei nicht gefühlt.

Indische Strände sind ein weiteres Thema. Aus einem Moment der Unachtsamkeit resultiert da schon einmal das ein oder andere Bikinifoto auf dem Smartphone oder Tablet eines indischen Mannes. In einem lokalen Bus in Goa habe ich beobachten können, wie ein Mann neben mir sorgfältig an jedes weiße weibliche Hinterteil gezoomt hat, das er während seines Goa-Urlaubes vor die Linse bekommen hat. Wir wissen alle, was höchstwahrscheinlich mit solchen Fotos hinter verschlossener Türe geschieht. Mit einem männlichen Freund in Indien zu reisen ist wesentlich angenehmer. Aber auch hier ist es gewöhnungsbedürftig, in der Kommunikation und Interaktion mit indischen Männern keines Blickes gewürdigt zu werden und das Sprechen und Bezahlen dem männlichen Freund überlassen zu müssen. Etwas Anderes wird auch gar nicht erwartet.

Sexuelle Belästigung ist in Indien weiterhin ein Problem. Zahlreiche Präventivprogramme der Regierung erinnern täglich daran. Frauen und Männern werden getrennte Bereiche in Bussen zugewiesen. In Mumbais Nahverkehrszügen wurden aufgrund wiederholter Übergriffe getrennte Wagons eingeführt. Bei der Buchung von Übernachtbussen muss das Geschlecht angegeben werden und manche Busunternehmen blocken die Plätze neben alleinreisenden Frauen für alleinreisende Frauen. Die Frauen, welche für die Studien von Cividep interviewt werden, berichten von Schikanen und Belästigungen von männlichen Vorgesetzten am Arbeitsplatz und Misshandlungen ihrer zum Teil alkoholabhängigen Männer zuhause. Eine Kollegin warnte mich gleich zu Beginn meines Praktikums vor indischen Großveranstaltungen, da eine ihrer Freundinnen während des Dussehra-Umzuges in Mysore in der Menge belästigt wurde und es aufgrund der Menschenmaße kein Vor und Zurück gab. Die Liste ist lang. Die Liste ist hässlich.

Die Toilettensituation

Die indische Toilettensituation ist für mich eines der gravierendsten Probleme dieses Landes. Das Bild des gegen Hauswände urinierenden indischen Mannes hat sich genauso in meine Erinnerung gebrannt wie das der Kuh, die den Verkehr blockiert. Es ist allgegenwärtig und dagegen helfen keine „Do not urinate here“-Warnungen, sondern im besten Fall das Anbringen von strahlhohen Kacheln, die indische Gottheiten abbilden. Kein Scherz. Für Frauen gestaltet sich die Situation um einiges schwieriger. Öffentliche Toiletten existieren zwar vereinzelnd, sind allerdings meist in desolaten Zuständen, weshalb am besten daran getan ist, in besseren Hotels um die Toilettenbenutzung zu bitten oder, so traurig es klingen mag, unterwegs nicht so viel zu trinken. Bernard Imhasly beschreibt in seinem 2015 bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienenen, sehr zu empfehlenden Buch „Indien – ein Länderportrait“ die traurige Mädchentoilettensituation in indischen Schulen. Viele Mädchen werden im Pubertätsalter von ihren Eltern aufgrund fehlender sanitärer Einrichtungen frühzeitig aus der Schule genommen, damit sie nicht den Schikanen ihrer männlichen Mitschüler beim notdürftigen Gang in den Busch ausgesetzt sind oder nicht unter Harnleiterinfektionen infolge von stundenlangem Unterdrücken des Harndranges leiden müssen. Keine Toiletten, keine Bildung. Traurig.

Urin ist das eine, Kot das andere. Eines der einschneidendsten Erlebnisse meines Indienaufenthaltes war für mich der Moment, als ich verträumt aus dem Bus im Zentrum Bangalores schauend plötzlich einen kleinen, maximal vierjährigen Jungen am Straßenrand seine Notdurft verrichten sah. Minutenlang war ich wie paralysiert. Als ich begann, zu realisieren, was dieses Bild eigentlich bedeutete, machte es mich traurig und verständnislos zugleich. Traurig, weil ich wusste, dass der kleine Junge kein stilles Örtchen hatte, das er aufsuchen konnte. Verständnislos, weil es ihm eine erwachsene Person so vorgelebt haben musste, ihm gezeigt haben musste, dass es okay war. Und es ist eben nicht okay. Es ist nicht okay, dass 53 Prozent der indischen Bevölkerung keinen Zugang zu einer Toilette besitzt. Aber noch weniger nachvollziehbar ist es, dass selbst die 20 Prozent, die zwar eine Toilette besitzen, diese nicht nutzen. Bernard Imhasly findet sie Antwort im hinduistischen Glauben, welcher jede körperliche Ausscheidung als verunreinigend und somit dem Körper fernzuhaltend ansieht. Eine klassische hinduistische Schrift verbietet es einem Hindu sogar seine Notdurft in oder um sein Haus zu verrichten. Imhasly beschreibt weiterhin die Toilettensituation in einer ärmlichen Dorfgemeinde in Bihar, in welcher der Raum der Toilette in sämtlichen Häusern als Abstellkammer genutzt wird, da der Kot im eigenen Haus als unhygienisch angesehen wird. Daraus resultiert, dass Frauen spät abends sowie früh morgens den Notdurftgang aufs Feld wagen müssen und in der Dunkelheit schutzlos sexuellen Belästigungen ausgeliefert sind. Was fehlende Toiletten für die hygienische Situation im Land und besonders in den Slums der Großstädte, sauberes Trinkwasser und die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Typhus, Malaria, Dengue und Geldfieber bedeutet, brauche ich nicht weiter auszuführen. Kein Wunder auch, dass ich seit drei Monaten immer mal wieder Magen- und Darmprobleme habe.

Die Müllsituation

Während meiner 16-stündigen Zugfahrt nach Goa saßen mir zwei junge Männer Anfang 30 gegenüber. Aufgeschlossene, intelligente, sympathische Typen mit gut bezahlten Beraterjobs in der IT-Industrie in Bangalore. Nach dem Abendessen nahmen sie Ihre Abfälle, stopfen sie in eine Plastiktüte und warfen diese ganz selbstverständlich aus dem Zugfenster. Mir müssen die Gesichtszüge entglitten sein aber ich habe nichts gesagt. Leider. Ich ärgere mich noch heute über mich. Jeden Tag landen 3600 Tonnen Müll neben indischen Zuggleisen. Die Brille des Perspektivwechsels aufzusetzen und sich zu fragen, ob man nicht auch die Plastiktüte aus dem Zugfenster geworfen hätte, wenn man es sein ganzes Leben nicht anders gemacht hat, hilft mit solchen Situationen umzugehen. Ich hatte dennoch gehofft, dass immerhin innerhalb der gebildeten Bevölkerungsschicht ein Bewusstsein für die immense Umweltverschmutzung in Indien vorhanden ist, doch auch hier herrscht, wie dieses Beispiel zeigt, Gleichgültigkeit. Paradoxerweise sind Inder innerhalb ihres Hauses, ihrer Wohnung, ihrer Slumhütte penibelst sauber, fegen und wischen jeden Tag und achten sehr auf ihre Körperhygiene. Sobald sie sich allerdings im öffentlichen Raum bewegen, scheint sie die Sauberkeit ihres Landes nichts anzugehen, einige rümpfen zwar die Nase aber die meisten schauen einfach weg. Wer noch nicht in Indien war, kann sich nicht ausmalen, welch überwältigende Gerüche alle paarhundert Meter lauern. Die Regierung scheint kaum etwas dagegen zu unternehmen. Mülleimer sind spärlich vorhanden. Natürlich gibt es auch Positivbeispiele, nur leider zu wenig.

Neben diesen drei, gibt es, wie bereits erwähnt, noch ein paar weitere Aspekte der indischen Kultur und Mentalität, die ich zu verstehen gesucht und an denen ich mich gerieben habe. Dazu gehören die Konzepte der indischen Großfamilie, der arrangierten Heirat sowie des Kastensystems. Ihnen hier und jetzt gerecht zu werden, würde den Rahmen sprengen

Es ist äußerst schwierig nach drei Monaten eine differenzierte Bilanz zu ziehen, in der ich allen Aspekten gerecht werde. So haben manche Aspekte mehr Erklärungsbedarf als andere, was sie nicht unbedingt wichtiger macht. Andere Aspekte sind so abstrakt, das sie schwer in Worte zu fassen sind. Bisher mag der Eindruck entstanden sein, dass mein Indienbild ein ausschließlich negatives sei. Dem ist nicht auf keinen Fall so. Ich hasse und liebe dieses Land. Ich habe mich unwohl und sehr wohl gefühlt. Meine Liebe zu Indien ist sehr abstrakt und nur an wenigen konkreten Punkten, wie der indischen Spiritualität, dem Bewusstsein für die Verbindung von Körper, Geist und Seele, der liebevollen Art meiner Gastfamilie, dem beeindruckenden Willen, der armen Bevölkerung, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, der indischen Höflichkeit und Loyalität in sozialen Beziehungen und vielen, kleinen schönen Alltagsmomenten festzumachen. Was jedoch Bände spricht ist, dass ich hier sehr glücklich war und bin. In meinen letzten Wochen werde ich nun in mich horchen und versuchen, die Gründe meiner Liebe zu Indien zu greifen und konkretisieren. Mit negativen Erfahrungen beschäftigt sich der Mensch leider meist zuerst und intensiver, da sie präsenter und schwieriger zu verarbeiten sind. Es ist einfacher zu meckern als dankbar zu sein.

Ich habe meinen Indienaufenthalt als Herausforderung und bereichernde Erfahrung gesehen. Es liegt in der Natur von Herausforderungen schwierig zu sein. Gerade dies macht sie reizvoll und schön. Die unbequemsten Erfahrungen sind meistens die wertvollsten, prägendsten und nachhaltigsten. In der Fremde offenbart sich einem nicht nur die fremde sondern auch die eigene Kultur in aller Deutlichkeit. Kulturelle Unterschiede sind ein Spiegel, der einem täglich vor Augen führt, wie die eigene Kultur, wie man selbst tickt. Eben diese Unterschiede zu entdecken, sich seiner eigenen Kultur bewusster, sich seiner selbst bewusster zu werden ist wunderschön und wertvoll. Ich würde mich, obgleich oder gerade weil es sicherlich kein einfaches Land ist, immer wieder für Indien entscheiden.

Kontakt

Spenden

Newsletter

facebook