Larissa Aldehoff war von Ende Mai bis Ende September 2014 für ein Praktikum bei der FEMNET-Partnerorganisation Munnade vor Ort in Indien. Hier erzählt sie von ihrer Arbeit sowie von ihren Erlebnissen und Eindrücken:
Hallo,
ich bin Larissa, ich studiere Internationale Studien und Friedens- und Konfliktforschung. Als Teil dieses Masterprogramms wollte ich gern ein Praktikum in Indien machen. Denn ich interessiere mich für Fragen globaler Gerechtigkeit, genauer gesagt für die Auswirkungen unseres westlichen Lebensstils auf die Menschen der sogenannten Produktionsländer. Die Herstellung unserer Kleidung ist dafür ein ziemlich gutes Beispiel.
Über FEMNET habe ich von der indischen Partnerorganisation Munnade in Indien gehört und mich für ein Praktikum beworben. Bald stand fest: es geht nach Indien, nach Bangalore im Bundesstaat Karnataka, dem Silicon Valley Indiens, wie ich las. Viele internationale IT-Firmen haben hier ihren Sitz, ebenso wie Call Center US-amerikanischer Firmen, in denen gut ausgebildete, junge Menschen arbeiten.
Ich erfuhr sehr schnell, dass Bangalore nicht nur IT-Hauptstadt Indiens ist. Auch viele Kleidungsfabriken haben hier ihren Sitz. Nahezu alle großen Marken, wie beispielsweise H&M, Adidas, Hugo Boss aber auch C&A lassen hier ihre Kleidung nähen. Die Arbeitsbedingungen in diesen Fabriken sind schlecht, teilweise unzumutbar; die Löhne viel zu niedrig, auch wenn sie meist dem gesetzlichen Mindestlohn entsprechen. Der beträgt aktuell 252 Rupees pro Tag, das sind nicht mal 3,10 Euro und reicht bei Weitem nicht für halbwegs hinnehmbare Lebensbedingungen.
Deswegen haben vier mutige Frauen, Rukmini, Yashodha, Saroja und Saraswathi 2004 Munnade gegründet. Als ich sie das erste Mal in Bangalore treffe, erfahre ich, dass sie selbst jahrelang als Näherinnen in Fabriken gearbeitet haben. Sie erzählen von dem Druck, immer mehr Kleidung in immer kürzerer Zeit nähen zu müssen. Von Beleidigungen der Aufseher und des Managements der Fabriken, von den vielen unbezahlten Überstunden, dem langen Arbeiten ohne angemessene Pausen – noch nicht mal, um aufs Klo gehen zu können – von fehlender medizinischer Versorgung bei Notfällen, der schlechten Luft und dem fehlenden Licht in den Fabriken. Schlimmere Fälle wie sexuelle Belästigung oder Fehlgeburten durch Überarbeitung deuten sie anfangs nur an, mittlerweile erzählen sie offen auch von solchen Fällen. All das tagtäglich selbst zu erfahren und bei den Kolleginnen mitzubekommen hat Rukmini und die anderen fertig gemacht.
Doch es ist ihnen gelungen, Munnade zu gründen und gegen diese Missstände anzugehen. Noch immer ist die Organisation von Arbeiterinnen und Arbeitern sehr schwer und Munnade wird von den Fabrikbesitzern nach wie vor nicht als offizielle Gewerkschaft anerkannt. Trotzdem konnte sie in den letzten Jahren einigen Einfluss entwickeln. Die Frauen erzählen von Fällen, in denen sie Streit zwischen Arbeiterinnen und Fabrikmanagement schlichten und Kompensationszahlungen aushandeln konnten. Ich erfahre, dass Munnade-Vertreterinnen sogar an einer Experten-Gesprächsreihe des Arbeitsministeriums Karnatakas zur neuen Arbeitsgesetzgebung eingeladen worden sind.
Bei all den unvorstellbaren Dingen, die ich erfahre, tut es gut zu sehen, was Munnade auf die Beine stellt und das Leben von Arbeiterinnen und ihren Familien verändern kann. Ich bin sehr froh, dass ich mit diesen mutigen Frauen zusammenarbeiten darf. Ich unterstütze sie v. a. bei der Kommunikation mit internationalen Akteuren und dem Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit, der über das Internet läuft. Aber v. a. geben sie mir tiefgehende Einblicke in ihre Arbeit. Durch ihre Berichte, Aktivistinnentreffen, aber auch die ganz alltägliche Büroarbeit erfahre ich von einigen der zahlreichen Probleme und Herausforderungen, aber auch von kleinen und manchmal sogar großen Erfolgen von Munnade.
Neben meinem Praktikum bei Munnade, bin ich auch Praktikantin von Cividep, der „Civil Initiative for Development and Peace“. Diese NGO arbeitet für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und -gesetze. Deswegen hat sie Munnade bei der Gründung und einige Jahre auch bei der Finanzierung unterstützt. Noch immer besteht eine sehr intensive Kooperation der beiden Organisationen.
Zusätzlich zum Kleidungssektor arbeitet Cividep auch im Elektroniksektor, der vor allem rund um Chennai niedergelassen ist, im Nachbarstaat Tamil Nadu. Dell und Samsung, ebenso wie einige ihrer Zulieferer produzieren hier. Auch Nokia hat sieben Jahre lang Handys herstellen lassen, wandert aber nun nach Vietnam ab. Dadurch verlieren nicht nur tausende Arbeiterinnen und Arbeiter von Nokia ihre Arbeitsplätze, sondern auch viele von den Zulieferern, die Nokia teilweise folgen und ebenfalls ihre Produktion verlagern.
Darüber hinaus hat Cividep auch Projekte im Tee- und Kaffeesektor. Außerdem startet Cividep gerade ein Projekt für Heimarbeiterinnen in der Schuhproduktion in Tamil Nadu. Diese sind extrem unterbezahlt und leiden auch unter sozialen Auswirkungen ihres Status als Unberührbare, der untersten Stufe im indischen Kastensystem. Dieses und die damit verbundene Diskriminierung der unteren Kasten ist zwar gesetzlich verboten, spielt aber im Alltag leider immer noch eine große Rolle.
Wichtiges Thema für Cividep ist auch die soziale Verantwortung von Unternehmen und die Vernetzung entsprechender Akteure.
Ich arbeite vor allem an einer Studie zu „living wages“, lebenssichernden Löhnen, die Cividep momentan erhebt. Dabei wollen wir die Löhne im Elektronik- und im Kleidungssektor vergleichen. Diese sind nämlich durchaus unterschiedlich und wir möchten mit der Studie herausfinden, wie die Arbeiterinnen und Arbeit damit jeweils ihr Leben bestreiten können, woran es besonders mangelt und welche Löhne sie eigentlich benötigen, um ein menschenwürdiges Leben führen und ihre Grundbedürfnisse abdecken zu können.
Weiterführender Links:
- Ein sehenswerter Kurzfilm, der die Arbeit der Munnade-Frauen, die sich auch in der Gewerkschaft „Garment Labour Union“, kurz GLU, engagieren, eindrucksvoll vorstellt.
- Die Homepage von Cividep ist sehr informativ. Insbesondere die dort verfügbaren Dokumentationen und Kurzfilme zu den angesprochenen Problemen im Kleidungs- und im Elektroniksektor, zu finden unter Publications, Videos & Pictures, lege ich Interessierten wärmstens ans Herz.
Update August 2014
Mein Arbeitsalltag wird momentan v.a. durch die Studie ‚Beyond Reach: Decent work a mirage for electronics and garment sector workers in India‘ von Cividep bestimmt. Die Studie befasst sich mit dem Thema lebenssichernde Löhne in der Textil- und Elektronikindustrie in Indien. Nach und nach gehen die Antworten der befragten Arbeiterinnen und Arbeiter von unseren Übersetzern bei mir ein. Ich habe die Aufgabe, die Antworten zu sichten und zur Vorbereitung der Analyse aufzubereiten. Dabei kann ich schon einige Vorannahmen entwickeln, es wird sich später noch herausstellen, ob diese zutreffend sind.
Es ist gar nicht so einfach, die einzelnen Schicksale, die hinter jedem Antwortbogen stecken, in das Analyseraster einzufügen und dann mit dem nächsten weiterzumachen. Die Antworten sind meist sehr aussagekräftig und verraten viel über die schwierigen Lebensumstände der ArbeiterInnen. Oft bin ich von den einzelnen Schicksalen so berührt, dass ich das nicht einfach so stehen lassen kann. Dann bin ich froh, wenn mein Kollege Antony in der Nähe ist und ich ihm erstmal Fragen zu den neuen Informationen stellen kann. Er erzählt mir dann mehr zu den Lebensumständen, beschreibt, was mit der einen oder anderen Aussage gemeint ist und gibt mir viele interessante Zusatzinformationen, bspw. zum staatlichen Gesundheitssystem für die ArbeiterInnen. Das funktioniert erfreulicherweise recht gut, die Arbeitgeber müssen für jedeN BeschäftigteN einen Beitrag für das staatliche Gesundheitssystem leisten und dieses ermöglicht den ArbeitnehmerInnen dann kostenlose Krankenhausbesuche. Allerdings fehlt den meisten die Zeit für das Krankenhaus, den Luxus, mehrere Tage von der Arbeit fernzubleiben und damit die Anstellung zu riskieren, können sich nur sehr wenige Menschen erlauben.
Am schlimmsten sind für mich aber die niedrigen Löhne. Gleichzeitig sehe ich, wie hoch die Lebenshaltungskosten für die Menschen sind und dass viele sich allein für die existenzsichernden Ausgaben verschulden müssen. Manche Menschen organisieren sich in Selbsthilfegruppen innerhalb der Nachbarschaft, so dass sie sich gegenseitig zinsfreie Kredite geben können. Doch viele andere müssen Kredite bei Banken oder schlimmer noch bei informellen Geldverleihern aufnehmen, die exorbitante Zinssätze verlangen. Diese Schulden werden wegen der Zinsen und immer neuem Bedarf an Geld für die Alltagsausgaben immer höher -ein hoffnungsloser Teufelskreis.
Trotzdem äußern viele der Befragten, dass sie froh über die Beschäftigung in den Fabriken sind, denn so verfügen sie überhaupt über ein Einkommen, auch wenn es bei Weitem nicht einmal für die nötigsten Ausgaben reicht. Für mich ist das nur schwer hinnehmbar und ich habe immer wieder das Bedürfnis mit Antony über diese Probleme zu diskutieren. Dabei werde ich jedes Mal immer noch dankbarer, dass es Cividep gibt und wenigstens diese kleine Organisation etwas gegen diese Probleme tut. Es ist wirklich gut zu sehen, wie aktiv meine KollegInnen hier sind und wie intensiv sie sich weltweit mit anderen Organisationen vernetzen, um diese Probleme anzugehen.
Auch ihre Zusammenarbeit mit Munnade erscheint mir nach wie vor sehr sinnvoll. Zum einen profitiert Cividep davon, dass Munnade noch näher an den ArbeiterInnen dran ist und unmittelbar deren Lebenswirklichkeit teilt. Auf der anderen Seite kann Cividep Munnade sehr gut unterstützen, insbesondere wenn es um strukturelle und organisatorische Arbeit geht. Die steht momentan auch im Vordergrund, die Munnade-Frauen sind sehr mit organisatorischen Tätigkeiten beschäftigt. Außerdem haben sie gerade einige interne Fortbildungen, um die Arbeitsabläufe zu verbessern und effizienter im Team zusammen arbeiten zu können. Das klingt zwar sehr spannend, aber aufgrund der Sprachbarriere – keine spricht Englisch und ich kann nicht Kannada - könnte ich da leider sehr wenig helfen. Deswegen konzentriere ich mich momentan auf meine Arbeit bei Cividep.
In Bangalore fühle ich mich mittlerweile heimisch. Viele Dinge, die am Anfang neu und ungewohnt waren, erscheinen mir mittlerweile normal. Das gilt zuallererst für den Verkehr. Der ist wohl in jeder indischen Stadt an deutschen Maßstäben gemessen sehr chaotisch. Doch Bangalore ist selbst für indische Verhältnisse besonders krass. Das liegt daran, dass diese Stadt täglich wächst aufgrund zahlreicher zuwandernder Menschen auf der Suche nach Arbeit. Natürlich ist Bangalore bei weitem noch nicht so groß wie Delhi, doch auch hier sind die Wege (mittlerweile) weit, da die Straßen der explodierenden Bevölkerungszahl schon lange nicht mehr gewachsen sind. Doch irgendwie habe ich mich an den Dauerstau gewöhnt, genauso wie an das Dauergehupe. Denn hier wird nicht im Ausnahmefall gehupt, sondern eigentlich immer und überall, um darauf aufmerksam zu machen, dass man existiert, sonst wird man mitunter schnell übersehen. Deswegen bin ich mittlerweile auch ganz froh darüber, wenn mein Rikshaw-Fahrer hupt, am Anfang hat mich das immer sehr genervt.
Auch andere Alltagssituationen, die hier eben doch anders sind, sind für mich mittlerweile völlig normal und ich muss nicht mehr für jede Kleinigkeit jemanden fragen oder das Internet bemühen, dieses Gefühl ist sehr gut. Das betrifft besonders, Wege zu finden. Das ist nämlich gar nicht so leicht. Es gibt keine Übersichten, die verraten, wann welche Buslinie wohin fährt. Eine Rikshaw fährt mich zwar theoretisch ähnlich wie ein Taxi überall dorthin, wo ich hin möchte (manchmal weigert sich ein Fahrer aber auch, in andere Stadtteile zu fahren, dann muss man einen anderen finden), praktisch muss man aber schon sehr detaillierte Informationen über den Zielort haben, wie etwa bekannte Landmarks und genaue Wegbeschreibungen von dort zur Zieladresse. Denn Straßennamen und Hausnummern sind in Indien zur Ortsangabe ziemlich wertlos. Das war am Anfang recht schwer und kompliziert für mich, aber mittlerweile kenne ich viele Orte, zu denen ich möchte, schon oder habe Strategien entwickelt, wie ich mit meinem Rikshaw-Fahrer mir noch unbekannte Orte trotzdem recht schnell finden kann.
Update September 2014
Es ist Zeit Abschied zu nehmen. Ich finde es unfassbar, wie schnell die Zeit verflogen ist. Dieses Gefühl erklärt sich wohl v.a. durch die spannende Zeit, die ich hier hatte. Durch mein Praktikum, aber natürlich auch mein Alltagsleben hier habe ich so einiges gelernt. Vieles war bzw. ist nicht leicht zu verstehen und schon gar nicht zu akzeptieren. Nicht nur was die Situation von den Menschen, die ich durch mein Praktikum treffen konnte, angeht. Auch das allgemeine gesellschaftliche Leben hat mich oft vor Herausforderungen gestellt. Ein Freund, der einige Zeit in Indien gelebt hat, hatte mich vorgewarnt, wie hierarchisch die indische Gesellschaft (noch immer) aufgebaut ist und funktioniert. Ich war also irgendwie vorgewarnt und darauf eingestellt, aber trotzdem hat es mich in einzelnen Situationen immer wieder aufs Neue erschrocken und wütend gemacht. Das gilt natürlich noch mehr für den Umgang mit Frauen. Gleichzeitig lässt sich das nicht generalisieren. Ich habe immer wieder sehr beeindruckende, offene Menschen getroffen und nicht jede indische Frau wird von ihrem Ehemann oder ihrer Familie unterdrückt und auf ihre klassische Rolle begrenzt. Glücklicherweise durfte ich einige Frauen kennen lernen, die sehr wohl ihr eigenes Leben hatten mit Zielen und Wünschen, für die sie einstehen konnten.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich außerdem die absolut faszinierende indische Kultur. DIE indische Kultur gibt es natürlich sowieso nicht, dafür ist dieses Land viel zu divers und facettenreich. Und genau das ist einer der Faktoren, die dieses Land für mich so interessant machen. Egal ob es um Sprachen, Religionen, Ethnien, Musik, Kleidung oder Essen geht, alles ist sehr unterschiedlich. Das gilt für die einzelnen Bundesstaaten und Regionen in Indien, aber besonders auch für Bangalore. Denn diese Stadt ist ein Schmelztiegel all dieser Aspekte, da viele Menschen aus ganz Indien täglich einwandern. Hinzu kommen vergleichsweise viele internationale Menschen, so dass es sehr faszinierend ist, zu beobachten, wer in Bangalores Straßen unterwegs ist. Natürlich gibt es auch hier eine sozio-ökonomische Segregation, diese verhindert aber nicht, dass Wohnsiedlungen bestehend aus recht einfachen Hütten (vielleicht würde man das Slum nennen) neben gut situierten Mittelstandswohnsiedlungen entstehen. Oder umgekehrt. Und das funktioniert. Genauso wie das Zusammenleben von verschiedensten religiösen Gruppen. Und darauf scheinen viele Menschen in Bangalore sehr stolz zu sein. Denn immer, wenn ich mich beeindruckt über dieses vielfältige Neben- und sogar Miteinander in Indien äußere, bekomme ich zu hören, dass das durchaus eine Besonderheit Bangalores ist.
Wenn ich auf mein Praktikum zurück blicke, kann ich nur froh sein, dass meine Bewerbung akzeptiert worden ist. Ich habe sehr viel gelernt, nicht nur was reines Faktenwissen angeht. Noch sehr viel lehrreicher waren die Begegnungen und Gespräche mit den Arbeiterinnen und den Aktivistinnen von Munnade, ebenso wie die Fragen an und die Diskussionen mit meinen KollegInnen von Cividep. Sie alle standen mit Rat und Tat zur Seite und haben mir teils sehr persönliche Einblicke in ihr Leben bzw. die allgemeine Situation in Bangalore gewährt. All das waren sehr wertvolle Erfahrungen, um die Probleme und Herausforderungen rund um Arbeitsrechte in Indien zu verstehen. Doch neben dem großen Ganzen habe ich eben auch einzelne Menschen und deren ganz persönliche Situation kennen lernen dürfen und das hat mich ungemein bereichert.
Es ist immer schwer, die Zeit in einem Land zusammenzufassen und zu beschreiben, das gilt umso mehr für Indien. Es ist sicher noch heterogener und facettenreicher als andere Länder. Doch ich kann definitiv sagen, dass sich mein Praktikum bei Munnade und Cividep sehr für mich gelohnt hat, sowohl in fachlicher als auch in persönlicher Hinsicht. Und ich bin sehr dankbar und froh, dass mir diese Zeit ermöglicht worden ist.