Vom 17. April bis 15. Juli 2017 absolvierte Clara Hanfland ein Praktikum in Bangalore, Indien bei der FEMNET-Partnerorganisation CIVIDEP.
Hier ihr Bericht....
April bis Mai 2017:
Seit gut sechs Wochen bin ich jetzt schon in Bangalore im heißen Süden Indiens als Praktikantin für die NGO Cividep. Cividep arbeitet an einer Schnittstelle zwischen Recherche und Aktivismus im Bereich Arbeiter*innen‐Rechte und Unternehmensverantwortung für die Textilindustrie wie auch im Leder‐, Tee‐ und Elektroniksektor.
Recherchen und Aktivismus in der südindischen Textilindustrie
In Bangalore selbst sind über 1200 Fabriken der Textilindustrie mit etwa 500.000 Arbeiter*innen angesiedelt, die ein fast unüberschaubares Netz aus Zuliefererbetrieben großer internationaler Fast‐Fashion‐Unternehmen wie H&M, Zara oder C&A, aber auch Betrieben lokaler Produzenten und Firmen bilden. Die Arbeitsbedingungen der Branche stehen seit Jahren im Mittelpunkt scharfer Kritik: Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, die Löhne so niedrig, dass es kaum zum (Über-)Leben reicht und die Produktionsziele und damit auch der Arbeitsdruck werden enorm hoch angesetzt. Im Gegensatz zu Deutschland ist es für Arbeiter*innen darüber hinaus kaum möglich, sich gewerkschaftlich zu organisieren und gemeinsam gegen die zahlreichen Rechtsverletzungen vorzugehen, da Vereinigungsfreiheit, Tarifverhandlungen und sogar die einfache Mitgliedschaft in Gewerkschaften systematisch verhindert und unterdrückt werden. In diesem ohnehin schon prekären System stellen Frauen eine besonders verwundbare Gruppe dar: Sexuelle Belästigung und Missbrauch am Arbeitsplatz sind oft an der Tagesordnung, sie werden systematisch niedriger bezahlt und die Vereinbarung von Beruf und Familie stellt für die meisten aufgrund der kaum vorhandenen Kinderbetreuung eine enorme Belastung dar. Da Bangalores Textilbranche zu 80 Prozent Frauen beschäftigt, recherchiert Cividep zusammen mit Partnerorganisation wie Femnet bereits seit einigen Jahren die tatsächlichen Zustände und die Bedürfnisse weiblicher Angestellte in den Fabriken. Nach zwei Studien zum Thema Kinderbetreuung (2012, 2016, PDF-Dateien) verfasst Cividep aktuell eine Aufbaustudie zum Thema Mutterschutz.
Bislang hatten werdende Mütter in Indien Anspruch auf insgesamt 12 Wochen Mutterschutz vor und nach der Entbindung. Nach der jüngsten Überarbeitung des zuständigen Gesetzes sind es nun sogar 24 Wochen. Die Lücke zwischen gesetzlichem Anspruch und Wirklichkeit kann allerdings sehr groß sein – genau hier setzt Civideps Feldforschung an.
Methodisch setzt Cividep auf quantitative Erhebungen durch fragebogengeleitete Interviews und auf Gruppendiskussionen mit Arbeiter*innen. Es ist allerdings oft ein langer, steiniger Weg, bis tatsächlich Daten erhoben werden können:
Die meisten großen Fast‐Fashion‐Unternehmen verweigern die Veröffentlichung der Namen von Zuliefererbetrieben, in denen die von ihnen verkauften Kleidungsstücke genäht und verarbeitet werden. In den letzten Jahren gab es zwar einige kleine Fortschritte und international agierende Fast‐Fashion-Giganten wie H&M oder Adidas zeigen sich transparenter, doch damit bilden sie noch immer eine Minderheit. Dementsprechend lange dauert es für Cividep in Kooperation mit GLU (Garment Labor Union), einer lokalen Gewerkschaft für Textilarbeiter*innen, in quasi kleinschrittiger Detektivarbeit nachzuvollziehen in welchen Fabriken die anvisierten Unternehmen produzieren. Im nächsten Schritt werden dann Arbeiter*innen rekrutiert, die bereit sind an Interviews teilzunehmen. Gibt es bereits durch zum Beispiel GLU oder vergangene Projekte Kontakte in den betroffenen Fabriken, dann kann eine Erhebung recht schnell und einfach durchgeführt werden. Ohne bestehende Netzwerke kann es allerdings auch passieren, dass Arbeiter*innen in wochenlanger Kleinarbeit vor den Werkstoren oder auf dem Weg zur Arbeit angesprochen und von einer Teilnahme an der Studie überzeugt werden müssen. Gerade aufgrund der gewerkschaftsfeindlichen Atmosphäre und dem hohen zeitlichen Druck in den Fabriken ist es zusätzlich oft schwierig ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Die erhobenen Daten werden anschließend aufbereitet und der Öffentlichkeit, Unternehmen und lokaler wie internationaler Politik in Form von Studien zugänglich gemacht. Auf der Homepage Civideps sind alle bisher veröffentlichten Recherchen einsehbar. Für die NGO und ihre Partnerorganisationen sind diese Berichte essentielle Grundlage für Kampagnen, aber auch Bildungsarbeit und Aktivismus in den Betrieben vor Ort.
Mich beeindruckt immer wieder die Hartnäckigkeit meiner Kolleginnen und Kollegen, mit der sie seit über einem Jahrzehnt nachhaltige Strukturen aufbauen und sich allen Schwierigkeiten zum Trotz kontinuierlich für eine drastische Verbesserung der Bedingungen für Arbeiter*innen einsetzen. In der Studie zum Thema Mutterschutz habe ich unter anderem am Fragebogen mitgearbeitet und verschiedene Recherchen über große in Deutschland ansässige Fast-‐Fashion-Betriebe durchgeführt. Dabei habe ich bereits in wenigen Wochen viel über die (problematischen und langen) Produktionswege von Mode, Gewerkschaftsarbeit in (Süd-)Indien und vor allem die Lebensrealität der Arbeiter*innen vor Ort - von deren Ausbeutung auch ich durch meinen Konsum immer wieder profitiere - gelernt. Der einzige verständlicherweise quasi unzugängliche Bereich für (als ausländisch gelesene) Praktikannt*innen ohne lokale Sprachkenntnisse sind Erhebungen mit Arbeiter*innen. Durch die Sprachbarriere und die durch Äußerlichkeiten bedingte Unmöglichkeit unauffällige Teilnehmerin zu sein, ist verständlicherweise die Gefahr von verzerrten Ergebnissen in der Regel einfach zu hoch.
Glücklicherweise konnte ich aber an Erhebungen für eine andere Studie Civideps in Form von Interviews mit Manager*innen in Zuliefererbetrieben großer Elektronikhersteller im Nachbarstaat Tamil Nadu durchführen - so habe ich schließlich doch gute Einblicke in den Prozess der Datenerhebung im Feld erhalten.
Wie kann die Situation für Textilarbeiterinnen besser werden?
Wie kann die Situation für Frauen und Mütter in den Textilfabriken Indiens verbessert werden? Es gibt seit Jahrzehnten Bemühungen lokaler wie internationaler Initiativen, verschiedener Stakeholder und der Politik – doch letztlich haben es die Unternehmen selbst in der Hand, sich der Verantwortung über eine Kontrolle ihrer Zulieferer zu stellen. Oft ignorieren sie die Zustände in ihren Zuliefererbetrieben oder haben so komplexe Zuliefererketten aufgebaut, dass sie tatsächlich gar nicht mehr nachvollziehen können (und wollen), wo die einzelnen Komponenten ihres Endprodukts produziert und verarbeitet werden. Ein erster wichtiger Schritt zur Verbesserung der Situation in der Fast‐Fashion‐Branche wie auch in zahlreichen anderen global agierenden Industrien ist also eine absolute Transparenz der Zuliefererkette. Eine andere Form von Transparenz kann zudem die Verwendung von Siegeln sein, für deren Erhalt sich Unternehmen regelmäßigen Kontrollen von außen unterziehen müssen und die den Konsum von nach fairen Standards produzierter Mode vereinfachen können.
Das alleine reicht natürlich nicht aus: Langfristig können nur verbindliche Standards und Regeln, die gemeinsam von Unternehmen, Vertretungen von Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, NGOs und (lokaler) Politik erarbeitet wurden, sicherstellen, dass die zahlreichen Verletzungen von Arbeits‐ und Menschenrechte und die allgemeine menschenunwürdige Behandlung von Arbeiter*innen in der Textilbranche ein Ende findet.
Alltag im bunten Indien
Und ansonsten? Irgendwo bin ich einmal über eine für mich sehr treffende Beschreibung Indiens gestolpert, an die ich fast täglich erinnert werde: Indien sei ein Land, dessen Bevölkerung in völlig verschiedenen Zeiten lebt. Während es Farmer auf entlegenen Dörfern gibt, deren Leben sich ohne Strom-, Wasser‐ oder Gesundheitsversorgung an Praktiken des europäischen 18. Jahrhunderts orientiert, organisiert sich die aufstrebende Mittel‐ und Oberschicht Bangalores den Alltag durch Apps, fährt mit Uber durch die Stadt oder bestellt mal eben nach einer Party Nachts um 4 per dunzo einen Kurier, der schnell Zigaretten oder Mitternachtssnacks vorbei bringen soll. Das Spektrum zwischen diesen beiden Extremen ist groß und hat viele Grauzonen. Eins ist allen Gruppen gemeinsam: Sie haben kaum tiefergehenden Kontakt zueinander und leben ihre so unterschiedlichen Formen von Alltag meist getrennt voneinander. So sehr ich Indien mit seinen vielen Farben, Symbolen, Praktiken und seiner großen Freundlichkeit auch genieße, so schwierig finde ich den Umgang mit diesen starken Klassenunterschieden und dem überdeutlichen Stadt-‐Land-‐Gefälle.
Auch nach sechs Wochen hinterlässt es immer noch ein bizarres Gefühl Kinder auf der Straße schlafen zu sehen und gleichzeitig in einem Zimmer zu schlafen, das täglich von einer sogenannten „Maid“ geputzt wird. Die Arbeit mit Cividep ist für mich persönlich eine große Hilfe einen Umgang mit diesen Spannungsverhältnissen zu finden und die unsichtbaren Grenzen zwischen verschiedenen Milieus zumindest ansatzweise zu überwinden. So unterhalten GLU und Cividep etwa zusammen ein „Workers Resource Center“ in der Nähe von zahlreichen Textilfabriken, in dem sich oft Arbeiterinnen nach Schichtenende treffen und das auch ich gelegentlich besuche. Gut erkennbar sind Gewerkschaftshäuser übrigens an Hammer und Sichel – die hier kein Zeichen für den Wunsch nach einem anderen politischen System oder gar einer Revolution, sondern lediglich ein Symbol für Gewerkschaften verkörpert. Neben vielen Verwirrungen über Symbole, Rituale und Zeichen ist natürlich auch die Sprachbarriere ein ziemliches Problem in meiner Kommunikation mit Arbeiterinnen. Aber irgendwie geht es dann doch meistens erstaunlich gut irgendwie mit Händen und Füßen, einzelnen Worten und gelegentlichen Übersetzungen durch Kolleginnen Geschichten austauschen und miteinander ins Gespräch kommen. Und selbst wenn es sprachlich unmöglich ist, zusammen Chai trinken macht im Zweifel immer Spaß.
Wie auch meine Vorgängerinnen bei Cividep erstaunt es mich sehr, wie schnell drei Monate vergehen können. Die letzten Wochen sind geradezu verflogen und auf einmal ist meine Zeit in Bangalore auch schon wieder vorbei. Dabei hat mich Civideps Arbeit bis zum Schluss begeistert. In der letzten Zeit hatte meine Arbeit zwei Schwerpunkte: Zum Einen habe ich mich mehr mit Bildungsarbeit für Fabrikarbeiter*innen verschiedener Sektoren beschäftigt und zum Anderen weiter an einer Studie über Mutterschutz und Kinderbetreuung in der Textilindustrie mitgearbeitet, die die NGO in Kooperation mit FEMNET durchführt.
Über die Recherche zu den Arbeitsbedingungen für Mütter und Väter, die in den Textilfabriken Südindiens arbeiten, habe ich ja bereits in meinem letzten Bericht etwas erzählt. In der Zwischenzeit sind die Interviews auf Hochtouren gelaufen und meine Kolleginnen und ich haben angefangen, die Ergebnisse und Rahmenbedingungen schriftlich in einem veröffentlichungsfähigen Format aufzuarbeiten. Dabei wurde deutlich, wie gerade Frauen – die mit etwa 80 Prozent den Großteil der Belegschaften ausmachen – systematisch unter Rechtsverletzungen leiden, die sie letztlich vor eine Wahl zwischen Mutterschaft und Erwerbsarbeit stellen. Auf dem Papier wirkt die Gesetzgebung für die Textilindustrie geradezu vorbildlich: Größere Fabriken müssen eine Kinderbetreuung, Créche genannt, gewährleisten, bezahlten Mutterschutz für 16 Wochen inklusive medizinischer Versorgung anbieten und genügend Pausen zum Stillen ermöglichen. In der Praxis werden diese Regelungen mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit verletzt, umgangen oder ignoriert. Fabriken gewährleisten Kinderbetreuung, indem sie einen leeren Raum anbieten, ohne Spielzeug, Erzieher*innen oder regelmäßige Mahlzeiten. Auch Mutterschutz und Pausen zum Stillen werden systematisch umgangen. Als Folge verlässt ein Großteil der Frauen ihren Arbeitsplatz mit Beginn einer Schwangerschaft und sucht sich nach einem oder mehreren Jahren Betreuungszeit einen neuen Arbeitgeber. Dies bedeutet für die Frauen, deren Stellung in der patriarchal organisierten Gesellschaft Indiens ohnehin eine stark benachteiligte ist, ökonomische Abhängigkeit von Ehemännern und Verwandten, Gesundheitsrisiken aufgrund einer fehlenden Krankenversicherung (die im indischen System von der Arbeitsstelle getragen wird) und finanzielle Einbußen nach dem Wiedereinstieg, da sie oftmals vom neuen Arbeitgeber in einer niedrigeren Position angestellt werden. Aber auch für die Kinder haben die Mängel der Kinderbetreuung in den Fabriken gravierende Folgen: Indien hat im weltweiten Vergleich noch immer überdurchschnittlich viele Fälle von frühzeitlichem Kindstod, Mangel- und Unterernährung sowie ungleich verteiltem Zugang zum Bildungssystem. Mit einem effizienten Kinderbetreuungssystem und Mutterschutz am Arbeitsplatz könnte dementsprechend sowohl die Situation von Kindern als auch Eltern flächendeckend massiv verbessert werden.
Wie kann dieses Ziel erreicht werden? Wie bereits in meinem letzten Bericht bin ich noch immer davon überzeugt, dass Transparenz in den Zuliefererketten global agierender Unternehmen der schnellste und effizienteste Schritt zur Besserung sind, um unabhängigen Organisationen, Gewerkschaften und Forschung Zugang und Kontrolle zu ermöglichen. Den nächsten Schritt können lokale wie internationale Regulierungen zu Herstellung, Arbeitsbedingungen, Gewerkschaften oder Importbedingungen darstellen – doch wie das Beispiel der Kinderbetreuung in Fabriken deutlich macht, zeigen diese oftmals in der Praxis nur wenig Wirkung. Global agierende Unternehmen müssen also zudem massiven Druck von Konsument*innen, Politik, Zivilgesellschaft und NGOs erhalten, bis sie ihre auf reinen Profit ausgelegten Strategien ändern und ihre Zulieferbetriebe enger auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen hin kontrollieren. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Um die Situation von Arbeiter*innen vor Ort direkt zu verbessern und lokale Gewerkschaften zu unterstützen, liegt Civideps zweiter Schwerpunkt neben Recherchearbeiten im Bereich Community Organizing. In sogenannten „Workers Resource Centers“ finden Arbeiter*innen einen sicheren Raum für Austausch, Beratung, Computernutzung, Bildungsangebote, Theater- und Musikgruppen oder auch einfach nur einen Chai nach der Arbeit. Cividep unterhält mehrere dieser Räume in verschiedenen Städten, die je nach Industriesektor ausgerichtet sind. In ihnen arbeiten Feldkoordinator*innen der NGO mit den jeweils verantwortlichen Gewerkschaften zusammen, um die Bedürfnisse der Arbeiter*innen sondieren, zu unterstützen und im besten Fall neue Mitglieder zu gewinnen. In einem Land wie Indien, in dem gewerkschaftliche Arbeit noch immer von vielen Einschränken und Rechtsbrüchen behindert wird, sind dieser Ansatz und seine Effekte nicht zu unterschätzen. Oftmals sind Arbeiter*innen nämlich die zahlreichen Rechtsverstöße, die sie umgeben überhaupt nicht bewusst – sie haben sie vielmehr als Teil ihrer Realität hingenommen und hinterfragen sie nicht. Sprach-, Geschlechts- und kulturelle Barrieren zwischen lokalen und migrantischen Arbeiter*innen tragen zusätzlich zu einer starken Fragmentierung unter den Belegschaften bei. Orte, wie Cividep sie bietet, können daher einen Raum darstellen, in dem sie sich über diese Benachteiligungen austauschen und bewusst werden können, um sich im besten Fall als eine gemeinsame Gruppe dagegen zu organisieren.
Die Zeit meines Praktikums und in Bangalore ist für mich viel zu schnell verflogen und ich bin mir daher sicher, dass ich mich auch in Zukunft weiter mit den Auswirkungen transnationaler Lieferketten auf Arbeitsbedingungen im globalen Süden beschäftigen möchte. Indien und vor allem Bangalore werden mir als bunter, von so vielen Unterschieden geprägter und fassettenreicher Ort in Erinnerung bleiben, an dem ich in drei kurzen Monaten immens viel gelernt habe. Dementsprechend danke ich FEMNET, die dieses Praktikum möglich gemacht haben und natürlich auch Cividep wie auch meinen Kolleg*innen selbst, die mir so viele tiefe Einblicke und Möglichkeiten mitzuwirken gegeben haben.